Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 10. März 2007 (Printausgabe)

„Leipzig war mein Waterloo“

Nachdenken über Leipzig:
heute Jürgen Schneider, ehemaliger Immobilienmogul

Wenn ich heute, rund fünfzehn Jahre nach meinem städtebaulichen Engagement in Leipzig und anderswo, auf meine damaligen Taten zurückblicke und dabei durch die Straßen des historischen Leipziger Stadtkerns wandere, blicken mich überall Zeugnisse an, die vom Reichtum der deutschen Vergangenheit zeugen. In ihnen pulst nach wie vor das wirtschaftliche Leben – wenngleich der Blutdruck höher sein könnte. So erfüllt mich beim Nachdenken über Leipzig zugleich Stolz über das Vollbrachte und ein wenig Melancholie bei der Vorstellung, wie die Stadt sich hätte entwickeln können, wäre meine Vision nicht in den Anfängen stecken geblieben.

Die Ursprünge meiner Liebe zu Leipzig sind vermutlich weitaus älter als ich. Dass die Ahnen meines Urgroßvaters Kunz dem Leipziger Raum entstammen, ahnte ich nicht, als ich auf der Suche nach einem geeigneten Ort für mein Ostengagement an einem strahlenden Sommertag im Jahre 1990 die Stadt Leipzig zum ersten Mal betrat. Bezaubert von der Anmut des historischen Kerns hatte ich Leipzig vom ersten Moment an ins Herz geschlossen. Hier war ein Bild des traditionellen Handels in steinerne Zeugnisse gegossen, die seit dem Mittelalter gewachsen waren. Im inneren Ring der Messestadt lag eine bauliche Schönheit im Dornröschenschlaf, und ich war der Prinz, der sie wach küssen wollte – und konnte. Denn ich hatte mich bis dahin nicht nur als träumender Visionär bewiesen, sondern als Unternehmer und Mann der Tat, der im mehrstelligen Millionenbereich im Westen des Landes Bauprojekte realisiert hatte.

Die Stadt sollte das historische Gesicht wiederbekommen, das zur DDR-Zeit vernachlässigt worden war. Nirgendwo anders in Deutschland hatte ich je eine solche Modellstadt in gewachsener historischer Kulisse erblickt.
Diese Stadt bildete sich vor mehr als achthundert Jahren als Handelszentrum am Schnittpunkt zweier wichtiger europäischer Handelsstraßen. Im Mittelalter wurde sie dann durch kaiserliche Privilegien zur offiziellen Handelsstadt mit Messeplatz. Damals belebten die Messen das Zentrum einer Stadt und fanden nicht wie heute in großen Hallen statt. Die Hausbesitzer verbanden durch Umbau und Neubauten im Lauf der Jahrhunderte ihre Höfe und Gebäude untereinander, um am Messegeschäft teilzuhaben. Zwar behielt jeder Eigentümer seinen Grund und Boden, aber für Messe und Handel wurden gegenseitig Durchgangsrechte zu aller Vorteil gewährt. So entstanden auf organische Weise immer mehr Durchgangshöfe, die sich wie ein Netz durch den Stadtkern zogen und ein ideales bauliches Ambiente für die Messetage darstellten.
So etwas gab es sonst nirgendwo in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet dieses architektonische Juwel in Vergessenheit – die Durchgangshöfe wurden wieder getrennt. Auch nach der Wende erschien es nicht mehr zeitgemäß, Leipzigs Stadtkern als historischen Messeort wiederzubeleben. So wurden draußen auf der grünen Wiese vorbildliche Messegebäude aus Glas und Stahl mit vielen Parkplätzen in der unmittelbaren Umgebung errichtet.
Da die Durchgangshöfe schon immer zum Flanieren und zum Genuss urbaner Vielfalt einluden, sollten sie in meiner Vision der Stadt wieder von urbanem Treiben erfüllt werden – durch Läden, Gastronomie, kleine Hotels sowie Theater und Wohnungen in den Obergeschossen, die fußnahes Arbeiten und Leben ermöglichen. Das Leipzig der Zukunft war für mich Einkaufs-, Unterhaltungs-, Kunst- und Bildungszentrum zugleich.
Daher kam mir der Gedanke, ganze Quartiere aufzukaufen und die alten Durchgangsverbindungen wieder zu öffnen.
Die historische Chance erschien mir einmalig, und nun kam es darauf an, schnell zu sein, nicht die Fehler Westdeutschlands zu machen, Historisches zu erhalten und zu erschließen und die übliche Verlegung des Einzelhandels auf die grüne Wiese und damit die Auszehrung des Stadtkern zu verhindern. Hier wollte ich meinen Beitrag zu den blühenden Landschaften leisten, die Kanzler Kohl als Parole ausgegeben hatte.
Also nahm ich Bauleute her, stellte Kreditanträge, führte Verhandlungen mit Vorbesitzern über Nachlässe, arrondierte zusammengehörige Parzellen und entwickelte mit aller Liebe zum Detail bei zirka 200 Objekten Umbaupläne. In keiner anderen Stadt Deutschlands hätte ich in so kurzer Zeit so viele zusammenhängende Grundstücke erwerben können. Das lag vor allem an den besonderen Eigentumsverhältnissen im Grundbuch, die sich aus dem Gang der Geschichte ergeben hatten. Aufgrund der Enteignungen erst der Nationalsozialisten und später der SED-Sozialisten waren viele Eigentümer ins Ausland geflohen, und die Erben hatten ihre Ansprüche vernachlässigt. Oft waren die Grundbucheintragungen auch nicht auf dem aktuellen Stand, in manchen Fällen verlief dort, wo ein Haus eingezeichnet war, eine Straße. Die Verkaufsbereitschaft der Erben war hoch, denn sie hatten ihren Lebensmittelpunkt weitab von Leipzig und waren deshalb in der Regel froh, ihre Liegenschaften unverhofft zu Geld machen zu können. Da ich stets nicht knauserte, wenn ich etwas wollte, fand auch so manche zerstrittene Familie wieder zur Einigkeit – wenigstens, was die Leipziger Grundbuchangelegenheiten anging. Manchem Alteigentümer ging das Herz auf, wenn ich von meinen Plänen erzählte, und das Portmonee ging kaum noch zu, nachdem ich das Grundstück vom ihm erworben hatte.
Grundsätzlich scheute ich keine Kosten, um die optimale Synthese von historischer Rekonstruktion und moderner Nutzungsanforderung zu finden. In den frühen Neunzigerjahren waren die Banken durchaus großzügig bei der Kreditvergabe, und so konnten der schöne Marmor und die handwerkliche Einzelanfertigung gar nicht zu teuer sein. Die städtischen Planungsämter hatte ich schnell auf meiner Seite. Denn ein so potenter und zugleich sachkundiger Investor kommt nicht alle Tage – zumal einer, der sich in persönlicher Haftung mit seiner Vision und Engagement verbindet.
Natürlich war ich kein Denkmalpfleger herkömmlichen Zuschnitts, und das Hemd war mir immer näher als der Rock.
Was wäre die Alternative zu meiner Art der Sanierung gewesen? Flächensanierung, weiterer Verfall, kleinteilige Wurstelei, billige Retuschen an der Stadt, Möblierung ihrer freien Flächen, schlecht gemachte geschmäcklerische Kosmetik der Fassaden? Das hätte die Stadt nicht verdient – bei so viel historischer Größe und baulicher Einmaligkeit.
Hier ist nicht der Raum, um Einzelobjekte wie Auerbachshof, die Mädler-Passage, Barthels Hof, den Zentralmessepalast, die Häuser in der Hainstraße und im Barfußgäßchen einer rückblickenden Einzelbetrachtung zu unterziehen. Immer ging es um die Strategie, möglichst ganze Quartiere aufzukaufen, um maximalen Gestaltungsspielraum bei der Wiederherstellung des historischen Gesamtensembles zu haben – natürlich unter Berücksichtigung moderner Anforderungen an Büro-, Einzelhandels- und Wohnflächen.
Wann immer der Denkmalschutz meinte, mir einen Strich durch die Rechnung machen zu können: Als das Amt für Bodenpflege in Sachsen einen Baustopp in der Mädler-Passage verhängte, weil bei Ausschachtungsarbeiten für ein Theater, mit dem der Innenhof unterkellert werden sollte, sich Mauerreste und Tonscherben in der Fäkaliengrube eines Plumpsklos fanden, hatte der Amtsleiter nicht mit meiner Begeisterung für historische Zeugnisse der alten Handelsstadt Leipzig gerechnet – und erst recht nicht mit der siebenstelligen Spende, die ich anschließend für weitere Grabungsarbeiten gab.

Meine Vision hieß immer: Qualität. Eine Qualität, von der ich glaube, dass sie meiner selbst gewählten Verantwortung für historische Objekte und meiner Vorstellung von Urbanität gerecht wird. Nur mit einem Anstrich ist es nicht getan. Mit Auflagen und Genehmigungen, Nutzungs- und Sicherheitsvorschriften, mit Gestaltungssatzungen und Autoabstellplatzordnungen hatte ich mich herumzuschlagen und oftmals Denkmalschutzgesetze einzuhalten, die im Widerspruch dazu standen. Mit viel Aufwand und viel Geld habe ich alle Hürden überwunden und dadurch alte Werte erhalten und neue Werte geschaffen.
Aber was ist aus meiner Vision geworden? Sie ist ins Stocken geraten, milde gesagt. Hier fängt der schmerzliche Teil der Liebesbeziehung an. Um das Jahr 1994 kippte die Ostkonjunktur, die Mietpreise brachen ein, die Banken bekamen kalte Füße und ich geriet in die Insolvenz. Leipzig war mein Waterloo. Wen es interessiert, möge dazu meine „Bekenntnisse eines Baulöwen“ lesen.

Aber was passierte städtebaulich mit meinem geliebten Leipzig? Vieles blieb unvollendet, manche Planungen wurden doch noch umgesetzt, manches blieb Idee. Eigentlich hatte ich vorgesehen, die nur einen Quadratkilometer große historische Innenstadt autofrei zu machen durch die Schaffung von unterirdischen Stellplätzen rund um den historischen Stadtring. Damals wäre das kein Problem gewesen, da die Versorgungsleitungen alle marode waren – heute sind sie längst ersetzt. Schwamm drüber!

Das Fenster einer einmaligen historischen Gelegenheit schloss sich nahezu geräuschlos. Sah ich in der Stadt ein Modell, in dem vergangene und zukünftige Wirtschaftsformen verschmelzen, in der große Visionen gepflegt und unorthodoxe Herrschaftsmethoden ausprobiert werden, bewies die Stadt mir, dass ich mich gründlich geirrt hatte. Das kleinliche Gewinndenken, die kurze, billige, der Wirtschaftslobby genehme Lösung kam wieder in Mode.
Manchmal denke ich über meine Liebe zur Stadt Leipzig: Wäre sie doch bloß romantisch geblieben und nicht tätig. Vielleicht bleibe ich ein Rufer in der Wüste, an dem sich nur jene ergötzen, die wie ich dem Hang Leipzigs zum Größenwahn frönen und dabei selbst schon Bauchlandungen hingelegt haben. Weitere, womöglich als besserwisserisch verstandene Ratschläge zur künftigen Stadtgestaltung Leipzigs will ich mir ersparen. Schließlich will ich nicht enden wie der Ex-Bürgermeister Romanus, der Ende des 17. Jahrhunderts unter Zuhilfenahme des Stadtsäckels das schönste Barockhaus der Stadt erbaute und anschließend 17 Jahre in Festungshaft verbrachte. Für meine Visionen habe ich genug getan, jetzt sind andere dran. Ich wünsche der Stadt Leipzig eine strahlende Zukunft, in der sich Menschen aus aller Welt ein Vorbild an dieser Stadt nehmen. Das Zeug zur Modellstadt hat sie noch immer.

Jürgen Schneider

____________

HINTERGRUND

Als Jürgen Schneider 1991 damit begann, in Leipzig eine Nobelimmobilie nach der anderen zu kaufen, hatte er in den alten Bundesländern bereits einen Schuldenberg von fast zwei Milliarden D-Mark angehäuft.
Dennoch entwickelte der Königsteiner in Leipzig eine ungewöhnliche Kaufwut: Neben Edelimmobilien wie Barthels Hof oder dem Fürstenhof erwarb er auch 60 Prozent der Mädler-Passage, das Romanushaus, den Zentralmessepalast und das Bambergerhaus am Augustusplatz. Auch die halbe Hainstraße verleibte sich der Königsteiner ein: Neben den Grundstücken von Barthels Hof und Webers Hof (Hainstraße 1, 3 und 5) kaufte er auf der gleichen Straßenseite auch den Jägerhof (Nummer 17/19), in dem sich das Kino „Passage“ befand. Auf der gegenüberliegenden Seite der Hainstraße gehörten ihm die Gebäude mit den Nummern 10, 12 und 14. Außerdem kaufte er die Hainstraße 21, Steibs Hof in der Nikolaistraße, Thiemes Hof in der Querstraße, Wünschmanns Hof am Dittrichring, das Teehaus im Thomaskirchhof 11, das Geschäftshaus Thomaskirchhof 20, das Stadtpalais Bernhard-Göring-Straße 64 sowie die Kroch-Villa in der Ferdinand-Lassalle-Straße 22. Im Barfußgäßchen gehörten die Häuser 11, 13 und 15 einem Immobilienfonds, an dem Schneider den Löwenanteil hielt. Zudem besaß er mit der JUS AG eine nur in Leipzig tätige Firma, die weitere 15 Häuser erworben hatte.
Das Geld für seine Leipziger Immobilien borgte sich der Hesse bei mindestens 22 Banken zusammen. Dafür sollen ihm 1,2 Milliarden Mark ausgezahlt worden sein – „Peanuts“, wie ein bedeutender deutscher Banker später meinte.
Nachdem sich Schneider im April 1994 nach Florida abgesetzt hatte, sah sein Leipziger Besitz einer ungewissen Zukunft entgegen, denn fast alle Objekte waren weit weniger wert als Schneider den Banken dafür abgenommen hatte. Nicht wenige befürchteten deshalb, dass die meist halbfertigen Häuser zu Ruinen verkommen.
Die erste Rettungsaktion glückte den beiden über 90-jährigen Töchtern des Passagen-Erbauers Anton Mädler. Sie zeigten Schneider wegen Untreue an und pochten auf eine Klausel in dessen Kaufvertrag, nach der ihnen ein vorrangiges Zugriffsrecht zustand. Der Coup gelang: Die Mädler-Passage konnte aus der Konkursmasse gehievt werden, und die beiden Mädler-Töchter übernahmen die 60 Prozent, die Schneider und seine Frau gekauft hatten. Später stieg die Commerzbank in die Passagen-KG ein und half, die Passage für fast 30 Millionen Mark zu sanieren.

Andreas Tappert

_____________

Ungewöhnliche Kaufwut

Prozess
Verhaftung in Miami

Im Mai 1995 konnte das Ehepaar Schneider in Miami verhaftet werden, von wo der Unternehmer im Februar 1996 an die Bundesrepublik ausgeliefert wurde.
In einem Gerichtsverfahren vor dem Frankfurter Landgericht, zu dem von Juni bis Dezember 1997 mehr als 50 deutsche Banker als Zeugen geladen waren, wurde Schneider am 23. Dezember 1997 zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.
Schneider wurde nach Ablauf von zwei Dritteln der Haftstrafe zum Jahresende 1999 aus dem Gefängnis entlassen. Seine Bankschulden von etwa 1,3 Milliarden Euro konnten die Kreditinstitute als Verlust von der Steuer absetzen. Ein erheblicher Teil der betrügerisch erschlichenen Kredite werden somit vom Finanzamt getragen: Schneider hat also weniger die Banken als vielmehr die Steuerzahler geschädigt.

r.

 

ZUR PERSON

Jürgen Schneider wird am 30. April 1934 in Frankfurt/Main geboren. Sein Vater betreibt ein Bauunternehmen. Nach dem Schulbesuch absolviert Schneider zunächst eine Ausbildung zum Maurer. Danach nimmt er an der Universität Darmstadt das Studium des Bauingenieurwesen auf. Später studiert er Staatswissenschaften und schloss 1963 an der Universität Graz mit der Promotion ab. Schneider steigt in das väterliche Bauunternehmen ein, für das er bis 1981 tätig ist. Nachdem sich Schneider von seinem Vater löst, avanciert er im Laufe der Achtzigerjahre zu einem der erfolgreichsten Immobilienmogule der Bundesrepublik. Dabei macht er sich mit aufwändigen Sanierungen historischer Bauten einen Namen – auch in Leipzig.
Ende Februar 1994 erscheint ein kritischer Artikel über Probleme mit Mietern der Schneider-Immobilien. Nach Schneider wird gefahndet. Die Fahndung endet am 17. Mai 1995, als Jürgen und Claudia Schneider in Miami, Florida festgenommen werden. Am 30. Juni 1997 beginnt der Prozess gegen Schneider.
Nachdem Schneider im Dezember 1999 aus der Haft entlassen wird, geht er unter die Autoren. Unter Mitarbeit des Ghostwriters Ulf Mailänder veröffentlicht er drei Bücher, darunter seine Autobiographie.

 

Seite drucken
Fenster schließen