Schneider in Leipzig
Pro & Contra zu Schneider-Führungen in Leipzig


Aktuelles

Vision Schneider-Führungen

"Schneider-Objekte" in Leipzig

Jürgen Schneiders Bekenntnisse

Nachdenken über Jürgen S.

Anfrage



Copyright © 2000-2022

sponsored by
Wolfgang Wischer

 

Zwischen Schein und Sein - Schneider in Leipzig

Ex-Baulöwe und Milliarden-Pleitier beklagt in einem Vortrag beim Studentencorps Thuringia den Werteverfall in der Wirtschaft

Leipzig sei sein Waterloo gewesen, meint Jürgen Schneider noch immer. Am Dienstagabend war der einstige Bau-Napoleon zusammen mit Ehefrau Claudia wieder einmal an den vermeintlichen Ort der Niederlage zurückgekommen. Das Studentencorps Thuringia hatte ihn zu einem Vortrag eingeladen. Die Überschrift: "Mehr Schein als Sein".
Zwei Dutzend Studenten, ein paar Freunde und Gäste treffen sich im Haus des Corps Thuringia in Leutzsch. Im Foyer der Villa sind Stühle aufgestellt, es wird Bier gezapft, geraucht. Ein älterer Mann sitzt am Rand auf einem wuchtigen Holzstuhl und schaut dem Treiben zu. Niemand spricht ihn an. Nur mit der schmalen, sportlich gebräunten Frau im roten Hosenanzug, die an seiner Seite sitzt, wechselt er manchmal ein paar Worte und vertrauliche Gesten.

Der unauffällige Besucher mit den grauen Locken hinter der hohen Stirn ist Jürgen Schneider, der erfolgreiche Baulöwe und spätere Sensations-Pleitier. Früher stand er immer im Mittelpunkt; jeder Schritt von ihm war perfekt inszeniert. Heute wartet er brav, bis er dran ist. "Mehr Schein als Sein" heißt sein Vortrag. Doch als er offiziell begrüßt und zum Reden aufgefordert wird, stellt er gleich klar: Für ihn sei die Lebensphase, die diese Überschrift verdient, vorbei.

140 Häuser zusammengekauft

Schneider erzählt von seinem Faible für alte Häuser, die er einst reihenweise gekauft und saniert hat. Vor sieben Jahren besaßen der Doktor, wie er sich damals gern nennen ließ, und seine Ehefrau Claudia rund 140 Gebäude und mehrere hundert Millionen Mark auf Festgeldkonten. Doch das wog nicht schwer genug gegenüber mehreren Milliarden Mark Schulden. Das Schneiderlein hatte den Banken nämlich überhöhte Grundstückswerte vorgegaukelt und daraufhin viel zu hohe Kredite für Kauf und Sanierung erhalten, die aus späteren Einnahmen nie rückzahlbar waren. Kurz vor dem absehbaren Zusammenbruch flüchtete er im April 1994 ins Ausland, wurde ein Jahr später in den USA gefasst und 1997 wegen Betrugs, Kreditbetrugs und Urkundenfälschung zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, wovon er zwei Drittel abgesessen hat - teils im offenen Vollzug.

Er sei zurecht bestraft worden, fühle sich aber als "Schuldiger unter Schuldigen", betont Schneider im ersten Teil seines Vortrags, bei dem der 65-Jährige zunächst verkrampft wirkt, oft auf sein Manuskript schaut und nicht sehr flüssig spricht. Die Augen hinter der Goldrandbrille bekommen erst Glanz, und die Worte sprudeln wie in alten Zeiten, als er sein damaliges Vorgehen beschreibt. "Ich hab' die Banker beobachtet. Die trugen dunkle Anzüge, Umschlagmanschetten und ein Einstecktuch im Jackett, hatten volle Haare und fuhren Mercedes. Das hab' ich mir dann auch alles gekauft." Den Büro-Standard der Banken habe er mit der Villa Andreae, einem prunkvoll sanierten Schloss in der Heimatstadt Königstein, noch überboten. "Dann habe ich sie mir kommen lassen, und sie standen Schlange." Mehr Schein als Sein - es funktionierte.

Zum Schluss hatte der Toupet tragende Großinvestor 55 Banken im Boot, die ihm Finanzierungswünsche willig erfüllten - bis die Immobilienbranche in die Krise geriet. Das Engagement in Leipzig verschärfte die Schieflage. Hier hatte Schneider rund 20 Objekte zusammengekauft. "Leipzig war mein Waterloo", sagt er. "Hier habe ich nicht nur mein Herz verloren an die vielen schönen alten Häuser der Innenstadt, sondern auch sehr viel Geld." Dennoch sei er gern hier, betont der braun gebrannte Ruheständler und erinnert an seinen Auftritt bei einer Buchvorstellung im März im Leipziger Hauptbahnhof. Mehr als 1000 Leute waren damals gekommen, viele jubelten ihm zu. Schneider erzählt von Anerkennung, Sachlichkeit und Wärme, die er da gespürt habe: "Diesen Abend werde ich nie vergessen." Frau Claudia, deren ermunternder Blick die ganze Zeit auf dem Mann ruht, mit dem sie seit 35 Jahren durch sehr dick und sehr dünn gegangen ist, nickt nachdrücklich.

Einladung war umstritten

Das Corps Thuringia, eine erst vor kurzem von Saarbrücken an den Gründungsort Leipzig zurückgekehrte Studentenverbindung, eröffnet mit dem Schneider-Abend eine Gesprächsreihe zu Problemen der Gesellschaft. "Wir haben lange diskutiert, ob wir ihn einladen sollen", sagt Christian Jäger, der so genannte Senior des Corps, der die Vereinigung nach außen repräsentiert. "Schließlich stehen Vertrauen und Ehrlichkeit bei uns hoch im Kurs. Er hat damit gebrochen." Dennoch habe man sich letztlich entschieden, die Diskussion mit Schneider zu suchen, erläutert der 26-jährige Jurastudent. 

Nach dem Vortrag tauchen denn auch kritische Fragen auf. Ob er denn gemerkt habe, wann er den Schritt zum Kriminellen gegangen sei, fragt einer. "Und konnten Sie eigentlich noch ruhig schlafen, nachdem Sie den Banken immer die falschen Zahlen vorgelegt haben?", will ein anderer wissen. Er habe meist sowieso nur vier Stunden Schlaf gehabt, entgegnet Schneider und umgeht damit den Kern der Frage. "Natürlich bin ich schuldig", entgegnet er einem Nachbohrenden. "Aber die Banken auch. Die hätten ja alles nachprüfen können. Ich bin bestraft worden. Die aber nicht."

Die junge Leute fragen nach, wie Schneider sich jetzt sein Leben finanziert. Er arbeite ein wenig als Berater im Denkmalschutz, antwortet der frühere Multi-Millionär. Wenn das Konkursverfahren abgeschlossen ist - wahrscheinlich in rund einem Jahr -, werde er nur noch über 1700 Mark pro Monat verfügen dürfen - alle weiteren Einnahmen werden gepfändet. Für den Lebensabend sei aber vorgesorgt. Schneider berichtet, er habe das Drittel vom Familienerbe, dass der Vater ihm vorenthielt, die Geschwister ihm dann aber dennoch geben wollten, ausgeschlagen, so dass es an seine Kinder ging. "Die sorgen jetzt für uns", sagt er.

Seinen einstündigen Vortrag hatte der in legerem Grau-Schwarz und mit roter Krawatte (aber ohne Einstecktuch) Gekleidete an einem von Kerzenlicht überstrahlten Holztisch stehend absolviert. Zur Fragestunde setzt er sich dann doch, wirkt erst locker, schaut aber plötzlich wieder missmutig drein: Er ist verunsichert, weil ihn die jungen Leute mit ihren kritischen Nachforschungen doch noch ein wenig in die Enge treiben. Die aufkommende Spannung löst sich erst, als einer fragt: "Glauben Sie, dass die Bücher mit Ihren Erinnerungen mal zur Pflichtlektüre für Leute werden, die in die Wirtschaft gehen wollen?" - "Ich hoffe", sagt Schneider, freut sich und lacht aus vollem Herzen. Endlich ein Zuhörer, der verstanden hatte, worin die neue Mission des einstigen Baulöwen besteht: öffentlich vor den Folgen einer unseligen Entwicklung zu warnen, zu der er selbst viel beigetragen hat.

Vor "Marktradikalismus" gewarnt

Moral und Ethik zählten nicht mehr in der Wirtschaft, schon gar nicht auf dem Bau und bei den Banken, lautet die Diagnose des (Ehren-)Doktors. "Marktradikalismus" herrsche statt der beschworenen sozialen Marktwirtschaft, und er habe die Folgen davon besonders hart spüren müssen: "Das kommt halt davon, wenn man als kleiner Hund mit den großen pissen geht", sagt der Mann und legt die Stirn in Falten wie früher, als er immer so lässig über den oberen Rand seiner Halbbrille schaute. Dem Anschein nach ist er seinerzeit zum Täter geworden. Aber vielleicht war selbst das mehr Schein als Sein: Als Opfer überzeugt er mehr.

 Thomas Müller
Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 19. Oktober 2000